Predigt: Johannes 18,31‑32


PFARRER i.R. MATTHIAS KRIESER



Erhöht


Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Wäre Israel zu Jesu Zeiten ein freies Land gewesen, dann wäre Jesus nicht gekreuzigt, sondern gesteinigt worden. Der Hohe Rat hätte nach seinem Todesurteil Jesus auf einen Platz vor der Stadt geführt, und dort hätten ihn dann alle Anwesenden so lange mit Steinen beworfen, bis er gestorben wäre. Sie hätten mit dieser Hin­richtungs­art zum Ausdruck gebracht: Gemeinsam beseitigen wir den Gottes­lästerer aus dem Gottesvolk. Nun war Israel aber kein freies Land, sondern die Römer hatten dort das Sagen. Darum durfte der Hohe Rat selbst keine Todes­urteile voll­strecken; er musste die römischen Besatzer darum bitten. Aus diesem Grund wurde Jesus am Freitag­morgen vom Palast des Hohen­priesters zum Palast des römischen Statt­halters Pontius Pilatus gebracht. Dort erwartete ihn ein Todes­urteil, das nicht nach jüdischem Brauch durch Steinigung, sondern nach römischen Recht durch Kreuzigung vollstreckt wurde. Hoch über den Köpfen der Menge hängend, sollte er sein Leben aushauchen. So entsprach es dem Willen des himmlischen Vaters, und so hatte Jesus selbst es voraus­gesehen. Mehrfach hatte er vorher­gesagt: „Der Menschen­sohn muss erhöht werden.“ Daran erinnert der Evangelist Johannes, wenn er davon berichtet, wie der Hohe Rat Jesus zu Pilatus brachte, damit er nach römischer Art umgebracht wird. Johannes schreibt: „So sollte das Wort Jesu erfüllt werden, das er gesagt hatte, um anzuzeigen, welchen Todes er sterben würde.“

Nun ist das Kreuz zum wichtigsten christ­lichen Symbol geworden. Und wenn wir ein Kruzifix sehen oder ein Gemälde von der Kreuzigung betrachten, dann meinen wir zu wissen, wie Jesus hin­gerichtet wurde. Aber ganz so klar ist das nicht. Die Zeugen Jehovas übersetzen das griechische Wort für Kreuz mit „Marter­pfahl“. Tatsächlich hat es damals auch Kreuzi­gungen an senkrechten Pfählen gegeben und an schlanken Bäumen. Aber wir wissen ja, dass Jesus nach dem Urteils­spruch sein Kreuz bis an die Hin­richtungs­stätte tragen musste. Dabei handelte es sich nicht um den senkrechten Pfahl, sondern eigentlich um einen Kreuzes-Querbalken. An diesen wurde Jesus dann nackt angenagelt und auf einem bereit­stehenden Pfahl befestigt. Ob der Querbalken dabei mit dem Pfahl ein T oder ein richtiges Kreuz bildete, wissen wir nicht. Es kann auch sein, dass Jesus mit dem Querbalken an einem Holzgestell oder einem Baum aufgehängt wurde. Ich weiß es nicht genau und will es auch gar nicht wissen. Von Bedeutung ist lediglich die Tatsache, dass Jesus für seine Hinrichtung „erhöht“ wurde, dass er also hoch über den Köpfen der Menge starb. So war es des Vaters Wille, so hatte er es an­gekündigt, und so geschah es dann auch: „Der Menschen­sohn muss erhöht werden.“

Die Römer wendeten diese grausam langsame und qualvolle Hin­richtungs­methode an, um das Volk ein­zuschüch­tern und von staats­feindlichem Verhalten ab­zuschre­cken. Der Gekreuzigte wurde bewusst so hoch angebracht, damit man ihn schon von Weitem sehen konnte. Es ist so, also wollten die Römer mit jeder Kreuzigung sagen: Seht her, so geht es jedem, der sich unseren Gesetzen widersetzt. So war die Erhöhung eigentlich eine Er­niedrigung. Nackt und ge­schunden wurden die Ver­urteilten bei ihrem Todeskampf zur Schau gestellt. Ja, so ist es auch unserm Herrn ergangen. Auch für ihn bedeutete die Erhöhung am Kreuz eine ent­setzliche Er­niedrigung. Bereits zu alt­testament­licher Zeit wusste man das und hängte manchmal Verbrecher an Bäumen auf. Im 5. Buch Mose steht: „Ein Auf­gehängter ist verflucht bei Gott“ (5. Mose 21,23). Der Apostel Paulus hat dieses Wort im Galater­brief aufgenommen und so gedeutet: „Christus wurde zum Fluch für uns; denn es steht ge­schrieben: Verflucht ist jeder, der am Kreuz hängt“ (Gal. 3,13). Es ist so, als wollte Gott mit seinem am Kreuz erhöhten Sohn sagen: Seht her, der ganze Fluch der Sünde liegt auf ihm, die Strafe für alle Schuld der Welt. Als Jesus am Kreuz erhöht wurde, da stieg er in Wahrheit zum tiefsten Punkt seiner Er­niedrigung herab; da machte sich das Gotteslamm zu aller Menschen Sündenbock. Jesus hing da oben im Todeskampf stell­vertretend für mich und für dich und für alle. Es ist unsere Schlechtig­keit und unsere Bosheit, die da am ge­schundenen und nackten Leib des Gottessohns zur Schau gestellt wurde.

Nun ist aber der tiefste Punkt von Jesu Er­niedrigung zugleich der Anfang seiner Erhöhung – und zwar jetzt nicht seiner leiblichen Erhöhung, sondern seines Aufstiegs zum Herrn über alle Herren. Wir wissen ja: Was da am Kreuz wie eine erbärmliche Niederlage aussieht, ist in Wahrheit ein Sieg. Der voll­ständige Satz des Paulus im Galater­brief lautet so: „Christus hat uns erlöst von dem Fluch des Gesetzes, da er zum Fluch wurde für uns; denn es steht ge­schrieben: Verflucht ist jeder, der am Holz hängt.“ Der Fluch des Kreuzes­todes ist zugleich der Sieg der Erlösung. Jeder, der den Erhöhten am Kreuz ansieht und ihm vertraut, wird frei vom Fluch der Sünde und damit auch vom Fluch des Todes. Das Kreuz schenkt das Gegenteil von dem, was es zeigt: Es überwindet die Sünde und den Tod. Die Er­niedrigung des am Kreuz Erhöhten führt nicht nur zu seiner eigenen Erhöhung, sondern auch zur Erhöhung aller, die an ihn glauben. Auch dies hat Jesus voraus­gesagt, als er anzeigte, „welches Todes er sterben würde.“ Als er zuvor von seiner Erhöhung sprach, da sagte er voll­ständig: „Wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschen­sohn erhöht werden, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben.“ Er erinnerte damit an eine Geschichte aus dem Alten Testament, eine Begebenheit aus der 40-jährigen Wander­schaft der Israeliten in der Wüste. Die Israeliten hatten gegen Gott gemurrt und damit schwere Schuld auf sich geladen. Gott ließ zur Strafe Gift­schlangen kommen, denen viele Israeliten zum Opfer fielen. Die Über­lebenden flehten um Hilfe, und Gott gewährte sie ihnen durch Mose. Mose musste einen Holzpfahl aufrichten und oben an der Spitze des Pfahls eine Schlange aus Metall befestigen. Gott verhieß: Jeder, der zu dieser Schlange aufschaut, soll nicht am Schlangen­gift sterben, sondern leben. Genauso ist es mit Jesus: Jeder, der zum ge­kreuzigten Menschen­sohn aufschaut, soll nicht am Gift der Sünde sterben, sondern ewig leben. Es ist so, als wollte Gott mit seinem am Kreuz erhöhten Sohn sagen: Seht her, hier habt ihr den Schlüssel zur Vergebung der Sünden, den Schlüssel zum Himmel­reich, den Schlüssel zum ewigen Leben. Ja, seht nur hin und glaubt, dann werdet ihr selig.

Gott hat es so gefügt, dass Jesus nicht von den Juden gesteinigt, sondern von den Römern gekreuzigt wurde. „So sollte das Wort Jesu erfüllt werden, das er gesagt hatte, um anzuzeigen, welchen Todes er sterben würde.“ Er hatte gesagt, dass der Menschen­sohn erhöht werden muss. Und nun merken wir die feine Doppel­deutigkeit dieser Prophe­zeiung: Jesus musste am Kreuz stell­vertretend erhöht werden als Fluch und Schande für die Sünden der Welt; diese Erhöhung war der Tiefpunkt seiner Er­niedrigung. Jesus musste aber auch am Kreuz erhöht werden als Sieger über Sünde und Tod, als König nicht nur der Juden, sondern aller Menschen. Das war der Wendepunkt hin zu seiner wahren Erhöhung. Es ist so, wie wir im Passions­lied anbetend singen: „Das Kreuz ist der Königs­thron, / drauf man dich wird setzen, / dein Haupt mit der Dornenkron / bis in' Tod verletzen. / Jesu, dein Reich auf der Welt / ist ja lauter Leiden; / so ist es von dir bestellt / bis zum letzten Scheiden. / Du wirst, Herr der Herrlich­keit, / ja wohl müssen sterben, / dass des Himmels Ewigkeit ich dadurch mag erben. / Aber ach, wie herrlich glänzt / deine Kron von ferne, / die dein siegreich Haupt bekränzt, / schöner als die Sterne.“ Amen.



Quelle: www.predigtkasten.de

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