Predigt: Matthäus 26,31‑56
PFARRER i.R. MATTHIAS KRIESER
Die Nacht der Stolpersteine
Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Wisst ihr, was ein Skandal ist – im ursprünglichen Sinn des Wortes? Es ist ein Stolperstein, oder auch eine Falle. Das griechische Wort „skandalon“ bedeutet „Stolperstein“ oder „Falle“. Wir finden es in dem Abschnitt aus dem Passionsbericht des Matthäus, den wir eben gehört haben. Martin Luther hat dieses Wort mit „Ärgernis“ übersetzt.
Als Jesus nach dem Mahl am Donnerstagabend mit seinen Jüngern in den Garten Gethsemane ging, prophezeite er ihnen unterwegs: „In dieser Nach werdet ihr alle Ärgernis nehmen an mir.“ Wir können auch übersetzen: „In dieser Nacht werdet ihr meinetwegen alle stolpern.“ Das, was mit Jesus in den nächsten Stunden geschieht, wird seine Jünger aus der Bahn werfen. Der Teufel wird Jesu Gefangennahme, Verhör, Folterung und Kreuzestod benutzen, um die Jünger tüchtig zu erschüttern. Sie werden erfahren müssen, dass sie aus eigener Kraft dem nichts entgegenzusetzen haben.
Petrus will diese düstere Prognose nicht auf sich sitzen lassen. Entrüstet antwortet er: „Wenn sie auch alle Ägernis nehmen, so will ich doch niemals Ärgernis nehmen an dir.“ Petrus ist überzeugt: Mögen die andern stolpern, ich werde nicht stolpern – komme, was da wolle! Aber gerade diesem selbstbewussten Petrus prophezeit Jesus: „Wahrlich, ich sage dir: In dieser Nacht, ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen.“ Das kann sich Petrus nun überhaupt nicht vorstellen und antwortet noch entrüsteter: „Und wenn ich mit dir sterben müsste, will ich dich nicht verleugnen.“ Die andern Jünger wollen nicht hinter ihm zurückstehen und beteuern dasselbe: Wir werden nicht stolpern; wir gehen dem Teufel nicht auf den Leim!
Liebe Brüder und Schwestern in Christus, das müssen wir uns hinter den Spiegel stecken: Niemand von uns ist geistlich stark genug, um dem Teufel zu widerstehen. Niemand von uns ist klug genug, um den Fallen des Teufels auszuweichen. Wenn Christus nicht den Teufel für uns besiegt hätte, dann würden wir ihm unweigerlich zum Opfer fallen. Darum hat der Herr uns auch beten gelehrt: „Führe uns nicht in Versuchung!“ Und die ganze Bibel warnt uns, dass wir unsern Glauben und unsere geistliche Kraft nur ja nicht überschätzen und uns einbilden, wir könnten selbst etwas zu unserer Erlösung beitragen. In dem Moment, wo wir uns das einbilden, sind wir bereits durch einen gefährlichen Stolperstein zu Fall gekommen – so wie Petrus mit seinem übertriebenen Selbstvertrauen.
Warum aber musste es damals so weit kommen? Warum mussten die Jünger an Jesus „Ärgernis nehmen“? Warum mussten sie die Erfahrung machen, dass sie Jesus feige verlassen und verleugnen? Jesus hat diese Frage ebenfalls auf dem Weg nach Gethsemane beantwortet. Er macht den Jüngern klar, dass sich Gottes Wort erfüllen muss, die prophetischen Verheißungen des Alten Testaments. Dabei erwähnt er besonders ein Wort des Propheten Sacharaja. Es lautet im Originaltext so: „Schwert, mach dich auf über meinen Hirten, über den Mann, der mir der Nächste ist! spricht der Herr Zebaoth“ (Sach. 13,7). Mit dem Mann, der ihm „der Nächste“ ist, meinte der himmlische Vater seinen eingebornen Sohn, den guten Hirten. Und mit dem „Schwert“ meinte er die herrschenden Autoritäten, die zu Jesu Zeit richtende Gewalt ausübten. Die kommen ja dann tatsächlich nach Gethsemane, nehmen den guten Hirten fest und schlagen ihn – schlagen ihn schließlich ans Kreuz. Die Jünger aber, die „Schafe“ des guten Hirten, zerstreuen sich daraufhin ängstlich; sie fliehen. Übersehen wir dabei jedoch nicht, dass Jesus hier wie auch schon bei seinen früheren Leidensankündigungen den Ausgang der Sache nicht verschweigt: seine Auferstehung. Er trägt den Jüngern in demselben Zusammenhang nämlich auf: „Wenn ich auferstanden bin, will ich vor euch hingehen nach Galiläa.“
Die Jünger sind nun aber nicht die einzigen, auf die Satan es in dieser Nacht abgesehen hat. Der Teufel legt auch Jesus selbst noch einmal einen mächtigen Stolperstein in den Weg. Er unternimmt einen letzten Versuch, den Sohn Gottes von seinem Heilsweg abzubringen und auf diese Weise die Erlösung zu vereiteln. Einst hatte der Satan versucht, Jesus durch Hunger, Leichtsinn und Macht auf seine Seite zu ziehen, nun versucht er es mit Angst. Wenn wir auf den Herrn in Gethsemane blicken, so sehen wir einen unruhigen, zu Tode geängstigten Mann. Erst will er mit drei eng vertrauten Jüngern zusammensein, dann ganz allein, dann wieder mit den Dreien zusammen, dann wieder allein… Dreimal läuft er hin und her zwischen der einsamen Stelle, wo er betet, und dem Ort, wo seine Jünger auch wachen und beten sollen, wo sie ihn aber bereits innerlich verlassen haben: Sie schlafen. So verstärkt sich Jesu Angst durch die Einsamkeit und durch die Erfahrung, dass sogar seine besten Freunde ihn im Stich lassen. Vielleicht ist diese Angst und Einsamkeit vor dem Leidensweg bereits so schlimm wie das spätere Leiden selbst. Dreimal betet der zu Tode geängstete Heiland: „Mein Vater ist‘s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht, wie ich will, sondern wie du willst!“ Dreimal versucht der Teufel Jesus durch große Angst, um ihn dahin zu bringen, dass er den väterlichen Auftrag ablehnt. Aber dreimal besiegt Jesus den Teufel und fügt seiner ängstlichen Bitte ergeben hinzu: „…doch nicht wie ich will, sondern wie du willst!“ Dreimal lebt er das vor, was er seine Jünger beten gelehrt hat: „Vater unser, dein Wille geschehe!“
Daraufhin stärkt der himmlische Vater den schwer Geängstigten. Nun kann er wieder ruhig vor seine Jünger treten und sie noch einmal daran erinnern, was ihn erwartet: „Siehe, die Stunde ist da, dass der Menschensohn in die Hände der Sünder überantwortet wird. Steht auf und lasst uns gehen! Siehe, er ist da, der mich verrät.“
Damit kommt einer ins Bild, der so hoffnungslos über Satans Stolperstein zu Fall gekommen ist, dass er nicht mehr aufstehen wird: Judas Iskariot. Er hat dem hohepriesterlichen Gremium für lumpige dreißig Silbermünzen versprochen, Soldaten dahin zu führen, wo sie Jesus ohne Aufsehen festnehmen können. Wir staunen, was das für eine Schar ist, die Judas da in den Garten Gethsemane mitbringt: ein schwer bewaffneter Trupp von Polizisten, die im Auftrag des Hohenpriesters Jesus festnehmen sollen. Man gewinnt den Eindruck, als sollten sie Terroristen jagen – einen gefährlichen Hassprediger und seine gewaltbereiten Anhänger. Dabei hat sich Jesus doch mit niemandem verschworen, sondern frei und öffentlich im Tempel gepredigt. Jeder konnte ihm zuhören und sich davon überzeugen, dass er nicht Hass predigte, sondern Liebe. Judas fungiert hier als V-Mann, als Verbindung des Hohenpriesters zur Jesus-Szene, damit seine Leute effektiv zugreifen können. Das Verhalten des Judas ist widerlich: Er tut so, als sei er noch immer Jesu Freund; er gibt ihm einen Begrüßungskuss und nennt ihn „Rabbi“. Jesus aber, der ihn bis auf den tiefsten Grund seiner Seele durchschaut, stellt ihn nicht bloß, empört sich auch nicht über ihn, lässt ihn nicht einmal Enttäuschung spüren. Stattdessen baut er ihm eine letzte liebevolle Brücke zur Umkehr. Er sagt: „Mein Freund, dazu bist gekommen?“ Dazu – um mich zu verraten, um mich meinen Mördern ans Messer zu liefern? Mach dir bewusst, was du da Böses tust, und sage dich davon los! Bekenne dich zu mir, dann wir alles gut! „Mein Freund“, nennt er ihn und zeigt ihm damit, dass er ihn trotz allem lieb hat. Aber Judas lässt diese letzte Chance ungenutzt und fällt über des Satans Stolperstein, fällt und fällt… bis hinein in die ewige Verdammnis.
Noch einen anderen satanischen Stolperstein erkennen wir bei der nächtlichen Festnahme: Petrus verliert die Selbstbeherrschung. So, als sei er wirklich ein Terrorist, zieht er das Schwert, das er zum Zweck der Selbstverteidigung bei sich trägt, und verletzt einen von den hohenpriesterlichen Einsatzkräften am Ohr. Hat er so wenig von Jesus gelernt? Erinnert er sich nicht mehr an die Bergpredigt, wo Jesus lehrte, dass man lieber einen Schlag einstecken soll als einen Schlag austeilen? Soll er wirklich vergessen haben, was Jesus wiederholt prophezeit hat: nämlich dass der Menschensohn überantwortet werden muss, um zu leiden und zu sterben und dann wieder von den Toten aufzuerstehen? Will er Gott in den Arm fallen und nach seiner eigenen kurzsichtigen Einschätzung das Heil herbeiführen – mit Gewalt? Jesus muss ihn zurückrufen: „Stecke dein Schwert an seinen Ort! Denn wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen. Oder meinst du, ich könnte meinen Vater nicht bitten, dass er mir sogleich mehr als zwölf Legionen Engel schickte? Wie würde dann aber die Schrift erfüllt, dass es so geschehen muss?“
Da ist er wieder: der Hinweis auf die Prophetenworte der Schrift, die sich in Jesu Passion erfüllen. Und auch den Einsatzkräften des Hohenpriesters bezeugt Jesus: „Das ist alles geschehen, damit erfüllt würden die Schriften der Propheten.“ Warum wird das immer wieder betont? Es geht hier nicht nur um Wörter und Sätze einzelner Propheten, die sich bewahrheiten. Nein, es geht um viel mehr: Gottes Heilsplan, von Anfang an gefasst und durch viele Jahrhunderte angekündigt, kommt an sein Ziel. Jesus überwindet mit seinem Leiden und Sterben die Macht des Teufels, damit dessen Stolpersteine uns nicht zu Fall bringen auf unsern Wegen. „Tausend-, tausendmahl sei dir, / liebster Jesu, Dank dafür.“ Amen.
Quelle: www.predigtkasten.de