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5. Kreuzeswort

Danach, da Jesus wusste, dass schon alles vollbracht war, spricht er, damit die Schrift erfüllet würde: „Mich dürstet!"

(Die Bibel: Das Evangelium nach Johannes, Kapitel 19, Vers 28)


Ist nicht die ganze Rede von Gott am Kreuz eine gewaltige Lästerung der göttlichen Majestät? Gott, der Allmächtige und Heilige, kann doch unmöglich am Kreuz zu finden sein, dem Ort der Ohnmacht und der Schande! Wird nicht mit dem Wort vom Kreuz Gottes Majestät geleugnet und des Menschen Würde beseitigt? Die Menschheit kann doch unmöglich in einem so widerstandslos Hingerichteten ihren Führer sehen und in diesem Bild des Jammers und Elends ihre Erfüllung finden! Wo bleibt all das Große und Herrliche unserer Bestimmung, das in uns nach Verwirklichung drängt?

Solange wir noch meinen, Gottes Majestät preisen und vor der Niedrigkeit in Schutz nehmen zu müssen, haben wir Gott noch nicht mit aller Leidenschaft gesucht. Solange wir noch von seiner Allmacht und Heiligkeit schwärmen im Gegensatz zur Ohnmacht und Schande des Kreuzes, solange ist uns Gottes Majestät noch nicht begegnet und wir haben uns selbst noch nicht erkannt.

Gottes Majestät ist nicht zu preisen. Sie ist Grund zu Verzweiflung und schrecklichster Not. Gottes Allmacht erdrückt uns in ihrer Zurückhaltung angesichts all unserer Not, und Gottes Heiligkeit verdammt uns in ihrer völligen Abkehr von uns Sündern. Gottes Majestät ist ohne Christus grauenhafte Ferne und furchtbarer Zorn.

Sieh zum Leidenden am Kreuz und höre: Da ist Gott zu finden! Sieh hin zum Dürstenden und wisse: Ihn quält unser Durst! Ja, sein Durst ist sogar der furchtbare Durst des Sterbenden im Todeskampf. Kein anderer Durst ist ihm deshalb unbekannt! Wenn Gottes Sohn diese Not erleidet, dann ist Gott nicht mehr fern. Der Allmächtige und Heilige nimmt teil an unserer Not, ist in sie eingegangen.

Sieh weiter: Ausgerechnet die, die ihn geschlagen und gekreuzigt haben, tränken den Gekreuzigten. Der Sohn der göttlichen Majestät, der Christus mit seiner überirdischen Vollmacht, ist so gering, dass er sich tränken lässt, so schwach und hilflos, dass in der Tat nichts so nahe liegt als ihn zu höhnen und zu spotten.

Welche Schmach! Gottes Größe, Allmacht und Heiligkeit sind im Gekreuzigten verschwunden. Gott ist hier mitten unter uns, der Geringste und Demütigste. Gott ist wahrhaftig Mensch geworden in Jesus, dass er ruft: „Mich dürstet!" Durch diesen Ruf werden wir gewiss, dass er die ganzen Kreuzesqualen mit all ihrer körperlichen Not wahrhaft und wirklich erlitten und empfunden hat.

Ja, Gott ist wirklich einer von uns geworden.

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